Priamos bittet um Hektors Leichnam
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"Er liegt noch im Zelte des Achilleus", antwortete Hermes. "Unverwest und schön ist Held Hektor, obgleich schon zwölf Tage verflossen und der Sieger ihn mit jedem Sonnenaufgang unbarmherzig um das Grab des Freundes schleift. Frisch und tauig liegt der Leichnam da, unbefleckt von Blut, alle seine Wunden sind geschlossen. So sehr lieben ihn die Götter noch im Tode!" Nach dieser Rede schwang sich Hermes zu Priamos auf dessen Schlachtwagen, nahm dem Greis sanft die Zügel aus der Hand und steuerte das Gefährt, hurtig die Geißel schwingend, dem Lager der Griechen entgegen. Sie erreichten den Graben und die Mauer: da fanden sie die Wächter beim Nachtmahl. Ein Wink des Gottes, und sie sanken in tiefen Schlaf - ein Druck seiner Hand, und die riesigen Riegel des Tores schoben sich auf. So gelangte Priamos glücklich vor die Lagerhütte des Peliden. Aus Balken war sie hoch gebaut, mit Schilf bedeckt und von einem geräumigen Hof umgeben, den ein Ringwall aus schweren Pfählen umschloss. Die Pforte war durch einen Riegel aus Tannenholz gesichert, der war so schwer, dass ihn nur drei starke Griechen gemeinsam vor- und zurückschieben konnten; Achilleus bedurfte dazu keiner Hilfe. Diesen Riegel hob auch Hermes ohne Mühe. Er stand mit einem Male in seiner wahren Gestalt, voll überirdischen Glanzes, mit Stab und Flügelschuhen, vor Priamos. "Erkenne mich, König", sagte er, "ich war es, der dich begleitete! Tritt furchtlos ein in des Peliden Haus, umfasse des Helden Knie und beschwöre ihn bei seines Vaters Namen und seiner Mutter Liebe, das rührt eines jeden Menschen Herz!" Damit schwang er sich in die Lüfte und entschwand den Augen des Greises. Priamos stieg vom Wagen und übergab dem Idaios Rosse und Maultiere. Dann ging er geradewegs in die Wohnung des Achilleus und sank vor dem Schrecklichen nieder. Er umschlang wortlos seine Knie, küsste seine Hände und sah dann dem Mörder seines Sohnes ins Gesicht. Erstaunt blickten Achilleus und seine Freunde auf den ehrwürdigen Greis nieder. "Göttergleicher Achilleus!" begann Priamos zu flehen. "Ein Vater bittet dich um die Leiche seines Kindes. Gedenke des eigenen Vaters, gib sie mir heraus. Fünfzig Söhne hatte ich, die meisten von ihnen raubte mir der furchtbare Krieg, und zuletzt nahmst du mir den einzigen, der die Stadt und uns alle zu beschirmen vermochte. Darum komme ich zu den Schiffen, komme zu dir, Achilleus, und biete dir unermessliches Lösegeld für Hektor. O gib ihn mir heraus! Was noch kein Sterblicher erduldete, erdulde ich. Siehe, ich drücke meine Lippen auf die Hand, die meine Kinder getötet o erbarme dich mein!" Diese Worte weckten in der Brust des Peliden sehnsüchtigen Gram um den eigenen Vater. Voll Milde schob er die Hand des Königs von sich, und dann weinten sie beide, Achilleus um Feleus und Patroklos, Priamos um Hektor. Das ganze Zelt widerhallte von ihrem namen-losen Jammer. Endlich sprang Achilleus auf, hob den Greis zu sich empor und sprach: "Du Armer! Welches Weh hast du erduldet und welcher Mut beseelt dich, dass du allein zu den Schiffen kommst und mir vor die Augen trittst! In deiner Brust muss ein eisernes Herz schlagen. Doch nun setze dich hier in den Sessel, auf dass wir gemeinsam unseren Kummer sänftigen. Was fruchten unsere Tränen?

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