Priamos bittet um Hektors Leichnam
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Ehe Priamos seinen Wagen bestieg, reichte ihm Hekabe bekümmerten Herzens einen goldenen Becher zum Opfertrank. Der König trat in die Mitte des Hofes, verschüttete reichlich Wein zur Ehre der Götter und betete mit erhobener Stimme: "Vater Zeus, du Herrscher vom Ida, lass mich Gnade und Barmherzigkeit finden vor dem schrecklichen Sohne des Peleus! Und wenn ich getrost zu den Schiffen der Griechen fahren kann, so gib mir dafür ein sicheres Zeichen, du Allgewaltiger, Allgnädiger!" Kaum hatte Priamos das letzte Wort dieses Gebetes gesprochen, als ein schwarzgefiederter Adler mit ausgebreiteten Schwingen von rechts her über die Stadt hinwegrauschte: so grüßte Zeus den greisen König der Troer, so versicherte er ihn seines Wohlwollens und seines Schutzes, und alle Umstehenden sahen es mit Freuden. Voll Zuversicht schwang sich Priamos auf seinen Schlachtwagen und fuhr hinter dem vierrädrigen Lastwagen, dessen Maultiere der alte Idaios lenkte, hinab in die Skamandrische Ebene, über die schon der Abend hereingebrochen war: das weite Gefilde lag in blauer Dämmerung. Als sie außerhalb der Stadt zum Denkmal des Königs Ilos kamen, nach welchem die Burg von Troia ihren Namen hatte, verhielten sie die Rosse und Maultiere und tränkten sie am Strom. Da bemerkte Idaios in der Nähe plötzlich die Gestalt eines Mannes und sprach erschrocken: "König, sieh den Mann dort! Er steht auf der Lauer und sinnt auf unseren Tod! Wir beide aber sind waffenlos und alt - lass uns in die Stadt zurückfliehen oder seine Knie umfassen und ihn um Gnade anflehen!" Priamos durchfuhr ein jäher Schauer, sein Haar sträubte sich. Aber da glitt die Gestalt auf schwebenden Sohlen näher und fasste freundlich des Königs Hand: es war Hermes, den Zeus auserwählten Menschen als Begleiter sendet, wenn es gefahrenvolle Wege zu wandeln gilt. "Vater", sprach er sanft, "wohin so spät? Andere Sterbliche schlafen um diese Stunde, du aber bist mit Rossen und Maultieren unterwegs. Fürchtest du dich nicht vor den Danaern? Mit Schätzen fährst du durchs Dunkel - wie, wenn dich einer von ihnen sähe? Aber sorge dich nicht, ich werde dich vor allen beschützen, denn du gleichst meinem lieben Vater in der Heimat an Antlitz und Gestalt. Nur sage mir, fliehst du mit diesen köstlichen Gütern in fremdes Land? Verlasset ihr Troer eure Stadt, nachdem ihr Hektor verloren habt, den tapfersten Helden, den kein Grieche an Mut übertraf?" Da atmete Priamos auf: "Nun merke ich wohl, dass eines Gottes Hand mich beschirmt, wie träte mir sonst ein so freundlicher Gefährte auf meinem bangen Wege entgegen? Schön und feierlich redet dein Mund von meines Sohnes Tod, das tut meinem gequälten Herzen wohl, und ich danke dir dafür. Wer bist du, mein Guter, welcher Eltern Kind?" "Mein Vater heißt Polyktor", antwortete Hermes, der sich nicht zu erkennen geben durfte, "ich selber bin der Myrmidonen einer, bin ein Genosse des Achilleus. Darum sah ich deinen Sohn gar oft von Angesicht, wenn er die Griechen vor sich her zu den Schiffen jagte. Da standen wir dann um unseren zürnenden Herrn geschart und bewunderten Hektor, den königlichen, aus der Ferne." "Wenn du einer von Achilleus' Myrmidonen bist", sagte Priamos voll Ungeduld, "so musst du mir sagen können, ob meines Sohnes Leiche noch bei den Schiffen liegt oder ob der schreckliche Pelide Hektors Leib schon in Stücke riss und den Hunden zum Fraß vorwarf!"

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