Der Riese Polyphemos
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Der Kyklop griff wortlos nach der Kanne und leerte sie mit gierigen Zügen. Man sah es ihm an, wie ihn die Süßigkeit und die Kraft des Trankes entzückten. Als er fertig war, hielt er mir das leere Gefäß hin und sprach zum erstenmal in freundlichem Ton: "Fremdling, gib mir noch eins zu trinken und dann sage mir, wie du heißest, ich will dich auf der Stelle mit einem Gastgeschenk erfreuen. Ich selber heiße Polyphemos." Dreimal noch schenkte ich ihm die Kanne voll, und der Dummkopf leerte sie dreimal. Als ihm der Wein den Sinn zu umnebeln begann, sagte ich schlau: "Du willst meinen Namen wissen, Kyklop? Ich habe einen gar seltsamen, ich heiße Niemand. Niemand, so hießen mich die Eltern, Niemand rufen mich die Freunde, Niemand nennt mich alle Welt." Lallend entgegnete der Kyklop: "So will ich dich, Niemand, als letzten nach allen deinen Schiffsgenossen verspeisen, das ist mein Gastgeschenk. Bist du damit zufrieden?" Dann lehnte er sich nach hinten und sank um. Laut schnarchend lag er da, vom Rausch überwältigt, den feisten Nacken zur Seite gebeugt. Ich aber sprang auf, holte den spitzen Pfahl aus dem Mist, hielt ihn in die noch glimmende Asche, bis er rot aufglühte und beinahe Feuer fing, und stieß ihn sodann mit aller Kraft dem Riesen ins schlafende Auge. Wie ein Zimmermann, der einen Schiffsbalken durchbohrt, so drehte ich den Pfahl. Die Glut versengte Wimpern und Brauen bis an die Wurzeln, dass es prasselte, und das erlöschende Auge zischte, wie wenn man heißes Eisen ins Wasser taucht. Grauenvoll heulte der Geblendete auf, die Höhle widerhallte schaurig von seinem Gebrüll. Wir flüchteten in den äußersten Winkel der Grotte und verkrochen uns dort, bebend vor Angst. Polyphemos riss sich den bluttriefenden Pfahl aus der Augenhöhle, schleuderte ihn weit von sich und tobte unsinnig. Laut schreiend rief er seine Stammesbrüder herbei, die ringsumher im Gebirge wohnten. Sie kamen von allen Seiten heran, umstellten die Höhle und fragten: "Wer tut dir etwas zuleide? Greift dich jemand an? Bringt dich jemand um?" Polyphemos aber brüllte aus der Höhle heraus: "Niemand tut mir etwas zuleide! Niemand greift mich arglistig an! Niemand bringt mich um!" Als die Kyklopen das hörten, schüttelten sie die Köpfe und schrien zurück: "Nun, wenn niemand dir etwas tut, was schreist du dann so? Du bist wohl krank, aber gegen Krankheit haben wir Kyklopen keine Mittel, das weißt du doch selbst, also gib Ruhe!" Und sie trollten sich. Mir aber lachte das Herz im Leibe. Der blinde Kyklop tappte vor Schmerzen winselnd in seiner Höhle umher, bis er den Eingang fand. Er rückte den Felsblock beiseite, setzte sich unter die Pforte und tastete mit den Händen beständig umher, um jeden von uns zu fangen, der etwa mit den Schafen entwischen wollte. Er hielt mich nämlich für so einfältig, dass ich versuchen würde, auf diese Weise zu entfliehen. Ich aber hatte meinen Plan längst gefasst und führte ihn aus. Mit Ruten aus dem Weidengeflecht, auf welchem der Kyklop schlief, band ich die fettesten Widder mit dem dichtesten Fell je drei und drei heimlich zusammen und flüsterte dann meinen Freunden zu: "Kriecht, jeder einzeln, unter einen der mittleren Widder, klammert euch an der Bauchwolle fest, und lasst euch so ins Freie schleifen.

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