Hektors Tod. Die Leichenfeier für Patroklos
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"Vater", fragte Athene grollend, "willst du dem Sterblichen da unten, der längst dem Verhängnis verfallen ist, am Ende noch einmal das Leben schenken?" Zeus aber winkte ihr stumm mit dem Blick, und die Göttin schwang sich wie ein Vogel hinab von den Felsenhöhen nach Troia, wo Hektor noch immer vor seinem Verfolger floh. Wie der Jagdhund den Hirsch, so hetzte Achilleus den Königssohn und gönnte ihm keinen Augenblick Rast. Als sie auf der vierten Runde wieder die Skamandrosquelle erreichten, warf Zeus zwei Lose in seine goldene Waage und hob sie hoch in den Himmel vor sich hin. Da sank Hektors Schale hinab bis in den Hades, und im selben Augenblick verließ Apollon den Troerhelden, den er bisher beschützt hatte. An seiner Statt schwebte der düstere Todesengel von nun ab über Hektors Haupt. Athene trat auf Achilleus zu und flüsterte ihm ins Ohr: "Steh und erhole dich, ich werde indessen Hektor zureden, dich furchtlos anzugreifen!" Achilleus gehorchte; er stützte sich auf seinen Speer, indes Pallas Athene mit geschwungener Lanze Hektor voranschritt, dem wartenden Peliden entgegen. "Mein Herz treibt mich, dich zu bestehen, Achilleus!" rief Hektor. "Ich will dich töten oder selbst fallen! Lass uns bei den ewigen Göttern einen Eid schwören, dass keiner von uns beiden den anderen misshandeln wird, wenn er ihn getötet hat! Die Rüstung darf er dem Gegner abziehen, seine Leiche aber soll ungeschändet dem Volke des Erschlagenen zurückgegeben werden. Soll das gelten?" Trotzig erwiderte Achilleus: "Nichts von Eid und Vertrag! So wahr es keinen Bund zwischen Menschen und Löwen, so wahr es keine Eintracht zwischen Schaf und Wolf gibt, so wahr gibt es auch keine Freundschaft zwischen dir und mir!" Damit schleuderte er seine Lanze gegen Hektor. Doch dieser sank blitzschnell ins Knie, und die grausige Waffe flog zischend über seinen Scheitel hinweg und bohrte sich in die Erde. Sogleich hob Athene die Lanze auf und gab sie dem Peliden zurück. Nun warf Hektor, und sein Speer traf Achilleus' Schild, prallte jedoch an ihm ab. Diesen Speer aber ließ Athene liegen, wo er lag. Entsetzt bemerkte Hektor, wie Achilleus von neuem seine riesige Eschenlanze gegen ihn hob, und wusste mit einemmal, dass Athene ihn betrogen hatte. Nun ist mein Schicksal besiegelt, das Schattenreich greift mit finsteren Armen nach mir, ich muss sterben, dachte Hektor. Aber er wollte nicht feige und ruhmlos in den Staub sinken, darum riss er sein Schwert von der Hüfte und stürmte auf den Peliden ein. Achilleus wartete den Streich nicht ab. Vom Schild gedeckt, durchspähte er blitzschnell die Rüstung, die Hektor ihm geraubt hatte, entdeckte an ihr eine Fuge zwischen Kehle und Schlüsselbein und stieß dort seine sternhell strahlende Lanze in Hektors Hals, dass ihm die Spitze beim Genick hinausfuhr. Die Gurgel hatte der Speer jedoch nicht verletzt, und so konnte der Gefallene, den Achilleus laut verhöhnte, noch sprechen. "O Achilleus", sagte er, "bei deinem Leben und bei deinen Eltern, lass mich nicht bei den Schiffen der Griechen von Hunden zerreißen! Nimm Erz und Gold, soviel du magst, zum Geschenk und gib dafür meinen Leib den Troern, dass mir die Ehre des Scheiterhaufens zuteil werde!"

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