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Iphigeneia

restes war von seiner Schwermut genesen. Nun führte ihn sein erster Weg zurück nach Delphi, wo er dem Apollon für seine Hilfe danken und das Orakel befragen wollte, was der Gott weiter über ihn beschlossen habe. Pylades ging mit ihm. Der Spruch, der den Unzertrennlichen im Heiligtum zuteil wurde, lautete: "Fern von hier, auf der Halbinsel Tauris, nahe dem Lande der wilden Skythen, befindet sich ein Heiligtum der Artemis. Ein Bildnis der Göttin wird dort verehrt, das vorzeiten vom Himmel auf das Barbarenland herabfiel. Nun aber sehnt die Göttin sich nach einem milderen Himmelsstrich und dem Gebet der Griechen, es gefällt ihr im rauen Taurien nicht mehr. Gelingt es euch, das Bildnis durch List oder Gewalt zu rauben und nach Athen zu verpflanzen, so soll Orestes, der landesflüchtige Königssohn von Mykenai, am Ziel seiner Not angelangt sein." Pylades verließ den Freund auch auf dieser gefährlichen Reise nicht. Das Volk der Taurier war ein wilder Menschenstamm. Jeden Fremden, der an ihrem Ufer strandete oder sich sonst wie in ihr Land verirrte, opferten sie der Jungfrau Artemis. Sie hieben dem Gefangenen den Kopf ab, steckten diesen an einer Stange auf den Rauchfang ihrer Hütten und bestellten ihn so zum weitumblickenden Wächter des Hauses, der böse Geister abschrecken und nahende Gefahr verkünden sollte. In dieses wilde Land nun hatte das Orakel den Orestes gesandt, weil hier seine älteste Schwester Iphigeneia als Priesterin lebte und sich in jahrelanger Sehnsucht nach der fernen Heimat jenseits des Schwarzen Meeres verzehrte. Die Göttin Artemis hatte, wie schon erzählt, die heldenmütige Jungfrau in Aulis vor dem Opferdolch des Sehers Kalchas gerettet, eine Hirschkuh an ihrer Stelle auf den Altar gelegt und das Mädchen voll Erbarmen durch das Lichtmeer des Himmels nach Tauris entrückt. Hier hatte sie die Schlafende in ihrem eigenen Tempel sanft zur Erde gelassen. Der König des Barbarenvolkes, Thoas mit Namen, hatte die Jungfrau gefunden und zur Priesterin des Artemistempels bestellt. So musste sie nach dem furchtbaren Brauch des Landes die gefangenen Fremdlinge der Göttin weihen und dann den Knechten übergeben, die sie als Opfer ins grausige Innere des Heiligtums zur Schlachtbank führten. Meist waren es zudem Landsleute von ihr, Griechen, die dieses jammervolle Los traf. Eines Nachts träumte Iphigeneia, sie weile im heimatlichen Argolis und sehe die Burg von Mykenai vor sich, ihr Elternhaus. Da begann durch ein furchtbares Erdbeben das Dach zu wanken, und alle Säulen stürzten ein, bis auf einen einzigen Pfeiler. Dieser aber nahm mit einem Male menschliche Gestalt an, aus dem Säulenknauf wurde ein blondgelocktes Haupt, und dieses redete in vernehmlichen Lauten wunderbar zu ihr. Da erwachte sie. Am Morgen, der dieser Nacht folgte, landeten Orestes und Pylades an der taurischen Küste. Sie verbargen ihr Schiff samt seiner Besatzung in einer unwirtlichen Bucht, erstiegen das steile Ufer und drangen, vorsichtig umherspähend, ins Innere der Halbinsel vor. Als sie aus einiger Entfernung den Tempel der Artemis erblickten, der eher einer Zwingburg glich als einem Götterhause - hohe Ringmauern mit düsteren Toren und Treppen umschlossen ihn -, da wäre Orestes am liebsten auf der Stelle umgekehrt und wieder heim gefahren. Aber der Freund schalt ihn ob seines Kleinmuts und sagte: "Das wäre das erstemal, dass wir beide vor etwas die Flucht ergriffen! Lass uns die Nacht abwarten und dann frisch ans Werk schreiten. Bis dahin verbergen wir uns in einer der Grotten unten am Strande, fern von unserem Schiff, damit niemand, der es etwa entdeckt, auch uns erblicke und gefangen nehme, ehe wir des Orakels Befehl ausgeführt haben; die Ruderer werden sich schon zu helfen wissen, sie sind flink. Wir aber werden durch irgendeine List in den Tempel gelangen, und haben wir einmal das Götterbild auf den Armen, so ist mir um den Rückweg nicht mehr bange. Artemis wird uns beschützen!"

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