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Hektor verabschiedet sich von Andromache
und kämpft mit dem grossen Aias

amit hatte sich das Geschick der Schlacht gewendet. Aias, der Telamonier, brach als erster in die von Ares verlassenen Reihen der Troer ein und schuf den Seinigen wieder Luft, indem er dem gewaltigen Troerhelden Akamas die Stirn knapp unter dem Helmrand durchbohrte. Schritt für Schritt musste der Feind sich wieder auf die Stadt zurückziehen. In Priamos' Hause trat Helenos, ein Sohn des Königs, der den Flug der Vögel deuten konnte, auf seinen Schwager Aeneas und auf Hektor zu und sagte: "Nun hängt alles von euch selber ab. Hemmt den regellosen Rückzug der Unseren, stellt die Schlachtordnung wieder her und beweget die Mutter, sie möge die edelsten Frauen der Burg im Tempel der Athene versammeln. Dort sollen Sie ihre köstlichsten Kleider der Göttin auf die Knie legen und der Eulenäugigen zwölf Kühe zum Opfer geloben, damit sie sich der troischen Frauen und Kinder erbarmt und die Stadt vor dem Verderben bewahrt." Sogleich begab sich Hektor zur Königin, und Hekabe befolgte die Weisung ihres Sohnes; aber Athene blickte ungerührt nieder auf die flehenden Frauen und erhörte ihre Gebete nicht. Als Hektor nach seinem Besuch bei der Mutter in seine Wohnung kam, fand er die Gattin nicht vor. Er eilte also zum Skaiischen Tore zurück. Dort fand er Andromache mit ihrem Kinde und einer Dienerin auf dem Turm. Weinend beklagten die beiden Frauen die Not der Troer. Die Amme trug den Knaben Astyanax schön wie ein Gestirn auf dem Arm. Hektor lächelte dem Kinde zu. Andromache aber drängte sich an den Gemahl heran, umfasste seine Hand und sagte unter Tränen: "0 schrecklicher Mann! Willst du dich auf ewig von uns trennen? Dein Mut wird dich noch töten! Aber du denkst ja weder an dein lallendes Kindlein noch an dein weinendes Weib, wenn dich die Schlacht in die Ebene hinabruft. Bald wird dich die Meute der Danaer zerreißen und mich als Witwe in Jammer und Elend stoßen. 0 möge mich doch die Erde gnädig verschlingen, wenn du stirbst, denn dann habe ich keine Freude am Leben mehr. Ist es nicht genug, dass mir Achilleus auf seinen Streifzügen im fernen Mysien den Vater und meine sieben Brüder erschlug? Muss er mir auch noch den Geliebten, den Gatten rauben? Artemis tötete meine Mutter mit ihrem Pfeil - seither warst mir du, o Hektor, Mutter, Vater und Bruder zugleich, und wenn du fällst, bin ich ganz allein auf der Erde. Darum erbarme dich und bleibe hinter der Mauer. Dort, am Feigenbaume, wo sie am schwächsten ist und wo man die Feste am leichtesten ersteigt, dort ordne das Heer zur Verteidigung. Haben nicht schon die tapfersten Griechen, Agamemnon und Menelaos, die beiden Aiasse wie auch Diomedes und Idomeneus versucht, an dieser Stelle kämpfend einzudringen? Die Belagerten brauchen dich ebenso wie die Streiter dort unten, darum bleibe hier!" Liebevoll legte Hektor seine starken Arme um Andromache und sah ihr lächelnd ins Auge. "0 Geliebte", sprach er nach einigem Besinnen, "auch ich habe das alles längst bedacht, aber ich scheue den Tadel der Troer und vor allem den Spott der Frauen. Sollen die mit Fingern auf mich zeigen, wenn ich der Feldschlacht fernbleibe? Mein Platz ist in den vordersten Reihen, dort wird Troias ewiger Ruhm verteidigt und vermehrt, und sei es mit dem Mute der Verzweiflung. Denn glaubst du, ich weiß nicht, dass der Tag kommen muss, an welchem Priamos' heilige Feste in Schutt und Asche liegen wird?

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