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Niobe und ihre Kinder

iobe, Königin von Theben, war eine Tochter des schrecklichen Frevlers Tantalos, der mit den Unsterblichen an der Tafel des Zeus speisen durfte, zuletzt aber ob seines Übermutes und seiner Untaten von den Göttern in den tiefsten Tartaros gestürzt wurde. Niobes Gatte war Amphion, der von den Musen jene kostbare Leier erhalten hatte, durch deren Spiel sich die Steine bei der Erweiterung der Stadt Theben von selbst zu uneinnehmbaren, steilen Wallmauern zusammenfügten. Sieben Söhne und sieben Töchter hatte Niobe dem König geboren, und der namenlose Stolz über dies Mutterglück stürzte sie eines Tages in Elend und Unglück. Des blinden Wahrsagers Teiresias Tochter, die Seherin Manto, hatte ganz Theben aufgerufen zu einem allgemeinen Opfer für die himmlische, sanfte Leto, die dem Zeus die göttlichen Zwillingskinder Apollon und Artemis geboren hatte. Alsbald traten die Frauen Thebens, mit Lorbeer bekränzt, aus den Häusern, schritten in langen Zügen zu den Altären, und fromme Gebete und Weihrauch erfüllten die Luft. Da erschien Niobe vor der wogenden Menge, in golddurchwirktem Gewande und gefolgt von höfischem Gesinde. Lang wallte ihr herrliches Haar über beide Schultern nieder. Sie strahlte von Schönheit und Hoheit, die auch der heftige Zorn nicht zu mindern vermochte, der ihr Herz durchglühte und ihre Wangen rötete. Denn nicht um mitzubeten und mitzuopfern schritt die Königin daher, sondern um die göttliche Mutter des sonnenstrahlenden Apollon und der jagd-frohen Artemis zu verhöhnen. "Seid ihr von Sinnen?" rief sie den Frauen zu. "Ihr opfert der Leto, von der man euch fabelt, und mein göttlicher Name bleibt ohne Weihrauch? Wer ist Leto? Eine unbekannte Titanentochter! Mein Vater aber war Tantalos, der mit den Göttern zu Tische saß, Zeus selbst ist mein Großvater, Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt, zählt zu meinen Ahnen, und meine Mutter, Dione, die Okeanostochter, glänzt des Nachts als hellleuchtendes Gestirn vom Himmel hernieder. Meines Gatten goldene Leier steht der des Apollon an ordnender Zauberkraft nicht nach. Vierzehn blühende Kinder habe ich dem König von Theben geboren, und wie viel Kinder schenkte Leto der Welt? Nur zwei! Das ist ein Siebentel meiner Mutterfreude wer also wollte zweifeln, dass ich siebenmal glücklicher und verehrungswürdiger bin als die armselige Titanide, der ihr Altäre errichtet und duftenden Weihrauch spendet? Unangreifbar wie Thebens Mauern ist mein Glück, und wenn mir die Schicksaisgöttin auch das eine oder andere meiner Kinder nähme, so hätte sie doch viel zu tun, wollte sie meine Schar zu Letos kläglicher Zwillingszahl herabmindern. Darum fort mit den Opfern und heraus aus dem Haar mit dem Lorbeer! Zerstreut euch in eure Häuser und lasst künftig solch törichtes Beginnen!"

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