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Gaia und Uranos

m Anfang war das Chaos. Es war ein unendlicher, gähnender Weltenabgrund, nicht hell noch dunkel, nicht warm noch kalt, weder tönend noch stumm. Hätte ein Mensch wie wir sich mit Zauberflügeln durch diesen unermeßlichen Abgrund bewegen können, er hätte mit seinen irdischen Sinnen nichts gesehen, nichts gehört, nichts gefühlt. Dennoch war das Chaos nicht leer! Es war die Heimat aller Götter und Geister, urgewaltiger Wesen, die auf die große Stunde warteten, da die Schöpfung beginnen sollte. Alles, was später entstanden ist und uns heute teils sichtbar, teils unsichtbar umgibt, war schon im Chaos vorhanden: wie ein Keim ruhte es in den erhabenen Gedanken und im tatbereiten Willen der Urgötter. Kämpfe durchwogten das Chaos, wilde Kämpfe - aber ein Menschenwesen von heute, einsam und verloren im grenzenlosen Raum, hätte nichts davon wahrgenommen; denn noch wehte nicht der leiseste Hauch, noch lebte nicht der zarteste Lichtstrahl, noch war nichts vorhanden, woran die Urgötter ihre Kraft erproben und ihre Absichten erweisen konnten, weder Luft noch Feuer, weder Wasser noch Erde. Nirgends herrschte sichtbare Bewegung, nur Totenstille und Finsternis. Auch das begnadete Auge der Seher, das weiter und tiefer blickt als der Sinn gewöhnlicher Menschen, vermochte das Chaos nicht zu durchdringen. Nur bis an seine Schwelle reichte die Rückschau der Weisen und Dichter des Griechenvolkes, und keiner wusste zu sagen, was sich jenseits begab. Was sie aber sahen und kündeten, war dies: Eines Tages habe sich ein belebendes Schimmern und wärmendes Glimmen durch das ganze Chaos verbreitet, unendlich zart: das kam von Eros, dem Gott der himmlischen Liebe, dem ältesten der Götter. Sein keusches Licht belebt noch heute die ganze Schöpfung und bindet ihre Wesen, gute wie böse, untereinander; und so belebte und befruchtete es auch das Chaos, und aus diesem entspross Gaia, die Urmutter der Erde. Breitbrüstig lag sie da, mit ihren schneebedeckten Berggipfeln so recht geschaffen zum Sitz für die ewigen Götter.

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