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Die letzten Seeabenteuer und der Schiffbruch

ch sehe euch erschüttert, Freunde; und doch waren es nur meine Worte, die euch berührten. Nun denket, wie es uns erging, die wir doch alle die Abgeschiedenen wirklich sahen! Aber genug davon. Höret, was uns weiterhin begegnete. Wir gelangten glücklich nach Aiaia, dem Eiland der Kirke, und wurden von der Zauberin freundlich empfangen. Wir errichteten unserem unglücklichen Genossen den Scheiterhaufen, bestatteten seine Asche in der Erde und türmten darüber einen Grabhügel mit einer Denksäule. Hierauf versorgte uns Kirke reichlich mit Lebensmitteln, warnte mich ausführlich vor den schlimmen Gefahren, die uns noch bevorstünden, und wir segelten weiter. Das erste Abenteuer, von dem mir Kirke geweissagt hatte, erwartete uns am Eiland der Sirenen, sangesreicher Nymphen, die jeden umgarnen, der ihrem Liede lauscht. Am grünen Gestade sitzen sie und singen ihre Zauberlieder den vorüberfahrenden Schiffern zu. Wer sich von ihnen hinüberlocken lässt, ist des Todes; moderndes Gebein liegt in Mengen zu ihren Füßen am Ufer umher. "Wenn du an die Insel der Sirenen kommst", hatte mir Kirke gesagt, "so verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, auf dass sie nichts von dem Gesange hören. Doch willst du selbst das gefährliche Lied vernehmen, so lass dich an Händen und Füßen fesseln und so an den Mast binden. Den Freunden aber befiehl, die Stricke ja nicht zu lösen, und wenn du sie noch so flehentlich darum bätest. Im Gegenteil, nur immer fester sollen sie die Fesseln anziehen, damit du nicht etwa ins Wasser springst und zu den Nymphen hinüberschwimmst." Als nun in der Ferne das grünende Eiland aus den Fluten tauchte, zerschnitt ich eine große Scheibe Wachs, knetete die Stücke weich und verklebte damit meinen Reisegenossen die Ohren. Dann ließ ich mich von ihnen fesseln und aufrecht an den Mast binden; sie aber setzten sich wieder an die Ruder und trieben das Fahrzeug getrost vorwärts. Immer näher kamen wir der Insel, und da standen auch schon die reizenden Mägdlein am Ufer und sangen mit wundersüßen, hellen Stimmen:
"Komm doch, Odysseus, komm, Gepriesener, Stolz aller Griechen!
Lenke dein Schiff ans Land, um unserer Stimme zu lauschen!
Keiner noch ruderte hier vorbei im düsteren Schiffe,
den nicht aus unserem Munde des Liedes Honig erquickte.
Alles singen wir dir, was einst nach dem Willen der Götter
Griechen und Troer gelitten vor Ilions Mauern, denn alles, alles,
was rings geschieht auf der vielernährenden Erde,
wissen und singen wir dir - o komm und lausche der Kunde!"

Mir schwoll das Herz in der Brust vor Begierde, dem Gesange länger zuzuhören, und ich winkte meinen Freunden verzweifelt mit dem Kopf, mich doch loszubinden. Sie aber mit ihren tauben Ohren, die nicht wussten, welch namenloser Verzückung und Versuchung ich ausgesetzt war, sie stürzten sich auf mich und zogen die starken Stricke so fest, dass sie mir ins Fleisch schnitten. Dann legten sie sich mit aller Kraft in die Ruder und trieben das Schiff eilig aus dem Bereich der tödlich verlockenden Stimmen hinaus. Als wir endlich so weit von dem Eiland entfernt waren, dass kein Gesang mehr zu hören war, nahmen sich meine Freunde das Wachs aus den Ohren und lösten mir die Fesseln. Ich dankte ihnen von Herzen dafür, dass sie so beharrlich gewesen.

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