Der Riese Polyphemos
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Ich wählte mir zwölf meiner tapfersten Männer aus, hieß die übrigen an Bord bleiben und nahm einen Schlauch vom besten Weine mit. So gerüstet, stiegen wir auf einem wilden Pfade zur Felsenkluft empor. Wir trafen den Bewohner nicht an, er war gerade mit den Herden unterwegs. Furchtlos traten wir in die Höhle ein und wunderten uns über deren Einrichtung. Da standen Körbe umher, angefüllt mit mächtigen Käselaiben, daneben riesige Kübel voll frischer Molken, und die roh gezimmerten Ställe wimmelten von jungen Lämmern und Ziegen. Die Genossen drangen sogleich in mich, von dem Käse zu nehmen, soviel ihre Schultern tragen könnten, und damit zu den Freunden auf die Insel zurückzukehren. 0 hätte ich doch auf sie gehört! Aber ich war zu begierig, den Höhlenmenschen kennenzulernen. Also befahl ich, ein Feuer anzuzünden und zu opfern. Dann aßen wir ein wenig von dem Käse und warteten geduldig auf die Heimkehr des Hausherrn. Endlich nahte er. Auf seinen Riesenschultern trug er eine ungeheure Last trockenen Klaubholzes. Er warf das Bündel krachend zu Boden. Wir versteckten uns angstbebend im äußersten Winkel der Höhle und sahen von dort aus zu, wie er seine Herde eintrieb. Die weiblichen Tiere ließ er alle in den Stall, Widder und Böcke aber mussten draußen im Gehege bleiben. Dann rollte er ein Felsstück vor den Eingang, das war so groß, dass es zwanzig vierrädrige Wagen nicht von der Stelle gebracht hätten, setzte sich gemächlich hin und begann seine Schafe und Ziegen zu melken. Die eine Hälfte der Milch versetzte er sogleich mit Lab; sie gerann, und er formte Käse daraus. Die andere Hälfte goss er in große Geschirre, das war sein tägliches Getränk. Nun zündete er ein Feuer an, und in seinem Schein entdeckte er uns in unserem Winkel. Auch wir konnten jetzt seine Gestalt zum erstenmal genau sehen. Er trug, wie alle Kyklopen, ein einziges funkelndes Auge an der Stirn, hatte Beine wie tausendjährige Eichenstämme und Arme und Hände, groß und stark genug, um mit Granitblöcken Ball zu spielen. "Wer seid ihr, Fremdlinge?" fuhr er uns mit rauer Stimme an, die wie Donner im Gebirge klang. "Woher kommt ihr über das Meer gefahren? Seid ihr Seeräuber, oder was treibt ihr sonst?" Bei dem Gebrüll bebte uns das Herz im Leibe. Doch nahm ich mich zusammen und erwiderte: "Ach nein, wir sind Griechen, kommen von der Zerstörung Troias zurück und haben uns auf der Heimfahrt verirrt. Kniefällig bitten wir dich, lieber Mann, um Schutz und um eine Gabe. Scheue die Götter und erhöre uns! Zeus beschirmt die Schutzflehenden und rächt ihre Misshandlung." Grässlich lachte der Kyklop auf: "Was kümmert mich Zeus und alle Götter miteinander? Glaubst du, wir Kyklopen fürchten ihre Rache? Du bist ein rechter Tor, Fremdling! Sage mir lieber sogleich, wo du dein Schiff verborgen hältst! Liegt es nahe vor Anker oder fern?" Ich durchschaute seine Arglist und antwortete ihm: "Mein Schiff, guter Mann, hat Poseidon unweit von hier an die Klippen geworfen und zertrümmert. Ich und diese zwölf Gesellen sind die einzigen, die dem Untergang entrannen."

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