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Von Troia nach Italien

ie Kunde vom Troischen Krieg und von den Leiden des Dulders Odysseus verdanken wir dem unsterblichen griechischen Sänger Homer. Die Schicksale des frommen Helden Aeneas aber hat uns der Dichter Vergil überliefert. Vergil war Römer, und sein Volk unterschied sich von dem der Hellenen bedeutend. Des Römers nüchterner Blick war beständig auf die irdischen Dinge gerichtet: Staat, Recht und Weltherrschaft, Ordnung und Gewinn waren seine eigentlichen Götter, der Krieg sein Lieblingshandwerk - hatte nicht Romulus, der erste König, Mars zum Vater und eine wilde Wölfin zur Amme? Des Griechen Blick hingegen weilte zugleich im Irdischen und im Oberirdischen, und was er auf des Olympos Höhen an erhabenen Wesen erschaute, damit bevölkerte der götterarme Römer seinen Himmel, seine Tempel; wie denn auch die Dichter Roms bei den bewunderten Griechen in die Schule gingen. Nur wenige Götter Saturnus, Mars, Ianus, Faunus, Minerva -waren auf Italiens Fluren heimisch. Sie verschmolzen mit den vom Olympos zugewanderten, die alsbald im Gewande lateinischer Namen über Roms Altären thronten: Zeus wurde Jupiter, Hera Juno, Demeter Ceres; Pallas Athene hieß Minerva, Hestia, die Göttin des Herdfeuers, Vesta, Poseidon wurde Neptunus, und Hermes, der Götterbote, verwandelte sich in Mercurius. Eros, der knabenhafte Liebesgott, wurde zum Amor, und aus der Liebesgöttin Aphrodite wurde Venus, die sternenumstrahlte Mutter des Helden, von dem hier erzählt wird. Beschützt von seiner Mutter, der Göttin Venus, war Aeneas aus Troia geflohen. Hinter ihm sank die herrliche Stadt in Asche, weithin war der Nachthimmel vom Widerschein der Flammen, die aus den Häusern und Tempeln schlugen, blutrot beleuchtet. In Priamos' Burg wüteten die siegreichen Griechen; die Reste des troischen Heeres, das Aeneas an Hektors Seite so lange Jahre unverzagt angeführt hatte, wurden hingemetzelt oder verkrochen sich todwund unter den Trümmern von Ilion. Aeneas trug auf den Schultern seinen greisen Vater, und an der Hand führte er sein Söhnlein Ascanius, auch Lulus genannt. Seine treuesten Waffengefährten und ein Teil seines Gesindes folgten ihm mit den heiligen Standbildern der Schutzgötter von Troja, die der fromme Held vor den Händen des unbarmherzigen Feindes retten wollte und mitzunehmen befohlen hatte. Auf verborgenen Pfaden erreichte die kleine Schar die Hafenstadt Antandros am Fuße des Idagebirges. Hier hatte sich schon eine große Anzahl troischer Flüchtlinge gesammelt, Männer, Frauen und Kinder, die das Unglück ihrer Vaterstadt beweinten. Als sie Aeneas erblickten, umringten sie ihn und flehten ihn an: "Führe uns aus diesem Lande fort, wir wollen uns fern von hier jenseits des Meeres neue Wohnstätten suchen. Waffenkundig bist du und weise, o Aeneas, lass uns nicht im Stich! Wie einem Vater wollen wir dir gehorchen und mit dir die alten Götter auf neuer Erde verehren."

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